Verdingt als Kind, verschuldet als Erwachsener

Verdingt als Kind, verschuldet als Erwachsener

«Viele haben den Umgang mit Geld nie gelernt»

Als Kinder und Jugendliche hatten sie einen schweren Start ins Leben: Verdingte und Zwangsversorgte. Manche drückt heute auch die Steuerschuldenlast. Zwei SP-Politiker wollen das ändern – zur Freude der Betroffenen.

Tausende ehemalige Verdingkinder und Zwangsversorgte hoffen auf mehr finanzielle Gerechtigkeit. Mit einem Solidaritätsbeitrag von bis zu 25'000 Franken für die Betroffenen hat der Bund zwar einen Schritt zur Wiedergutmachung getan. Doch je nach Situation zerrinnt der Solidaritätsbeitrag den Opfern zwischen den Fingern.

So schlägt auch die Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgungen weitere Massnahmen vor, welche die Opfer zusätzlich entlasten würden – vom Gratis-GA bis zur Zusatzrente.

Die beiden Berner SP-Nationalräte Flavia Wasserfallen (40) und Matthias Aebischer (52) nehmen den Ball nun auf. Sie wollen Bund und Kantone stärker in die Pflicht nehmen und machen in der Wintersession mit neuen Vorstössen Druck.

SP-Aebischer: «Viele Betroffene in prekärer Situation»

Aebischer will die Opfer finanziell besserstellen. «Viele Betroffene leben heute aufgrund des Unrechts, das ihnen damals zugefügt wurde, in einer sehr prekären Situation – in finanzieller, sozialer, physischer und psychischer Hinsicht», sagt er. Bei vielen hätten sich deswegen über die Jahre hinweg Schulden angehäuft.

Für ihn ist klar: «Den Betroffenen müssen zumindest die Schulden bei Bund, Kantonen und Gemeinden erlassen werden.» Er denkt dabei etwa an Steuerschulden oder Alimentenbevorschussungen. «Es kann nicht sein, dass mit dem Solidaritätsbeitrag indirekt Steuerschulden getilgt werden», sagt Aebischer.

Es geht um Zehntausende Franken

Eine Forderung, die auch Robert Blaser (62) vom Verein Fremdplatziert unterstützt. Er selbst kennt die Problematik aus erster Hand. «Auch ich habe Steuerschulden», sagt der Vereinspräsident zu BLICK, ohne eine genaue Summe nennen zu wollen.

Er kenne viele Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, denen es gleich ergehe. Häufig seien es Zehntausende von Franken, in einzelnen Fällen betrage die Steuerschuld gar über 100'000 Franken. «Viele haben den Umgang mit Geld nie gelernt und scheuen den Kontakt mit den Behörden. Es ist ein Teufelskreis, aus dem man kaum mehr herauskommt.»

Blaser selbst wurde 1965 den Eltern entrissen und ins Heim gesteckt. Gut acht Jahre verbrachte er im Kinderheim Landorf in Köniz BE. «Schreckliche Jahre», an die sich Blaser nur ungern erinnert. «Erziehung und Bildung waren nicht besonders wichtig. Stattdessen stand die Arbeit in der Landwirtschaft im Vordergrund – das Heim hat gut an uns verdient.» Später landete er für über zwei Jahre in der Arbeits- und Erziehungsanstalt Kalchrain im Kanton Thurgau. Grundlos. «Der Vormund nannte es eine Vorsorgemassnahme», so Blaser. Erst mit 20 Jahren wurde er entlassen.

«Ich hatte mit anderen Sachen zu kämpfen»

Blaser fasste trotzdem Fuss im Berufsleben, heiratete und hat fünf Kinder. Doch zu den Behörden hält er bis heute möglichst Abstand. «Ich habe immer wieder Behördenwillkür erlebt, das hat mich geprägt.» So hat er auch die Steuererklärung selten ausgefüllt, worauf er vom Steueramt eingeschätzt wurde. «Natürlich viel zu hoch», sagt Blaser.

«Ich hatte mit anderen Sachen zu kämpfen, die Steuern sind zur Nebensache geworden», erzählt er weiter. «Ich will nicht jammern. Aber es wäre eine grosse Erleichterung für mich und viele Betroffene, wenn diese Last von unseren Schultern genommen würde.»

Für ein «Haus der anderen Schweiz»

In eine andere Richtung zielt der Vorstoss von Flavia Wasserfallen. Sie verlangt, dass sich der Bund an einem «Haus der anderen Schweiz» in Bern beteiligt. Dieses soll als Kompetenz- und Begegnungszentrum an das düstere Kapitel der Schweizer Geschichte erinnern wie auch weitere Forschung ermöglichen.

«Die Opfer dürfen nicht in Vergessenheit geraten, da steht auch der Bund weiterhin in der Pflicht», betont Wasserfallen.

Auch Blaser erachtet die Schaffung des Hauses als wichtig. Doch er hofft, dass die Politik weitere Empfehlungen der unabhängigen Expertenkommission aufgreift. «Ein Gratis-GA wäre toll», sagt er. Doch sein wichtigstes Anliegen: «Eine Zusatzrente von 300 bis 400 Franken pro Monat wäre mehr als berechtigt.» Denn viele hätten aufgrund ihrer Vorgeschichte kein vernünftiges Einkommen erzielen können und seien nun bei der Rente schlechter gestellt.

Ruedi Studer, Bundeshaus-Redaktor, Blick, 25.11.2019

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